„Wie, du stillst immer noch?“ Mütter, die ihr Kind über das erste Jahr hinaus stillen, werden häufig schief angeschaut. Doch gerade das Langzeitstillen hat unglaublich viele positive Effekte – für Mutter und Kind.

Langzeitstillen ist in Deutschland eher selten

Stillen wird als Langzeitstillen bezeichnet, wenn es, gemäß der meisten Definitionen, über das erste Lebensjahr des Kindes hinausgeht. Studien zufolge wird in Ländern mit höherem Einkommen nur jedes fünfte Kind über die von der WHO empfohlene Mindeststilldauer von sechs Monaten hinaus gestillt. Dabei hat Muttermilch viele schützende Inhaltsstoffe, die Kinder auch langfristig vor Krankheiten schützen und seine Entwicklung fördern. Im Schnitt liegt die Stilldauer in Deutschland etwa bei acht Monaten, nur 16% der Kinder werden über das erste Jahr hinaus gestillt. Darüber, wie viele Kinder ab dem dritten Jahr noch gestillt werden, gibt es leider keine Daten, auch weil Mütter sich oft aufgrund von Angst vor Stigmatisierung oftmals nicht trauen, darüber zu sprechen.  In einer groß angelegten Online-Studie zum Langzeitstillverhalten konnte aufgrund der erhobenen Daten geschlossen werden, dass etwa einer von 1000 Erstklässlern in Deutschland noch gestillt wird.

Die WHO empfiehlt aufgrund der gesundheitlichen Vorteile von Muttermilch das Stillen parallel zur Beikost bis etwa zum zweiten Lebensjahr. Auch die Nationale Ernährungskommission spricht sich für ein Langzeitstillen aus, damit Mutter und Kind von den gesundheitlichen Vorteilen profitieren können. Doch trotz der Empfehlungen von Experten und wissenschaftlich renommierten Institutionen stillen viele Mütter früher ab.  Viele Frauen, die sich dazu entschließen ihr Kind länger zu stillen, fühlen sich oft allein gelassen und nicht verstanden. Vor allem vom eigenen Umfeld wird das Langzeitstillen oftmals nicht akzeptiert und sogar negativ kommentiert. Doch welche Vorteile hat das Langzeitstillen nun genau? Wir listen für Dich einige Gründe auf, wieso Du ruhig über das erste Jahr hinaus weiter stillen solltest und die Dir dabei helfen können, negative Stimmen auszublenden.

Muttermilch schützt Mutter und Kind vor Krankheiten

Muttermilch gilt als Superfood fürs Baby und hat viele gesundheitsfördernde Effekte für Kind und Mutter. Babys, die gestillt werden, sind Studien zufolge seltener krank. Vor allem das Kolostrum, die Erstmilch, die schon während der Schwangerschaft gebildet wird, besitzt wichtige immunmodulierende Proteine und eine hohe Konzentration an Mineralstoffen, Vitamin A und Vitamin E. Die dort enthaltenen Antikörper sind wichtig für den Aufbau eines funktionierenden Immunsystems.

Forscher fanden heraus, dass Muttermilch im zweiten Jahr des Stillens ein generell höheres Maß an Antikörpern aufweist, was der Zusammensetzung des Kolostrums ähnlich ist. Die Anzahl gesunder Enzyme ist somit höher in der Milch einer Frau, die 18 Monate stillt, als die in der Milch einer Mutter, die sechs Monate stillt. Dies zeigt, dass Muttermilch auch nach der Zeit ihre protektiven Eigenschaften nicht verliert und das Kind weiterhin vor Krankheitserregern schützt. 

Kinder, die lange gestillt werden, haben zudem weniger Probleme mit Allergien und Unverträglichkeiten, z.B. erleiden sie seltener eine Glutenunverträglichkeit. Auch das Risiko, an Übergewicht oder Adipositas zu leiden, wird durch langfristiges Stillen um 26% gesenkt. Durch das Langzeitstillen gewinnt das Kind eine gewisse Bindungssicherheit zur Mutter, was es generell selbstbewusster macht. Kinder, die länger gestillt werden, gelten somit als sozial und emotional sehr kompetent. Auch entwickelt sich der Kiefer und die dazugehörigen Muskeln durch das Saugen an der Brust gut, was sich positiv auf die Sprachentwicklung auswirken kann. Stillen wirkt zudem einer Fehlbildung der Zähne entgegen.

Allerdings wird nicht nur das Kind besser geschützt, auch die Mutter selbst profitiert vom Langzeitstillen: Stillen kann da Risiko deutlich senken, an Krebs, Diabetes oder Osteoporose zu erkranken. Auch die Wahrscheinlichkeit übergewichtig zu werden, wird gesenkt. Das Risiko an Gebärmutterhalskrebs, Brustkrebs oder Eierstockkrebs zu erkranken, sinkt sogar mit jedem Stillmonat.

Langzeitstillen entspricht dem natürlichen, arttypischen Standard des Menschen

Die amerikanische Anthropologin Katherine Dettwyler stellte während ihrer Forschungen Berechnungen auf, die festlegten, dass das biologische Abstillalter bei mindestens zwei und maximal sieben Jahren liegt. Für diese These spricht der Sauginstinkt, der im Schnitt bis zum Alter von vier bis sechs Jahren bei Kindern noch vorhanden ist. Man geht nach der evolutionären Verhaltensforschung davon aus, dass längeres Stillen arttypisch für den Homo Sapiens ist.  

In vielen Kulturen wird zudem deutlich länger gestillt als in Deutschland. Im Schnitt liegt die Stilldauer aller dokumentierten Kulturen bei 30 Monaten. In vielen Naturvölkern werden Kinder meist mindestens bis zum zweiten Lebensjahr lang gestillt, in Ländern wie Japan oder Korea sogar oft bis ins Kindergartenalter. Wie lange eine Frau stillt, scheint also oft kulturell bedingt zu sein. Je mehr es in der jeweiligen Kultur akzeptiert ist, desto länger wird auch gestillt. 

Gibt es Gründe oder Stimmen gegen das Langzeitstillen?

Sätze wie „Kinder, die lange gestillt werden, werden nie selbstständig.“ oder „Wenn ein Kind lang gestillt wird, kann das was mit seiner Psyche machen.“, mag die eine oder andere Mutter, die sich zum Langzeitstillen entschlossen hat, eventuell schon gehört haben. Was ist an solchen Vorurteilen dran?
In Puncto Selbstständigkeit wurde in einer Studie herausgefunden, dass das genaue Gegenteil der Fall ist: Kinder, die länger gestillt wurden, wiesen im Vergleich zu Kindern, die nur kurz oder gar nicht gestillt wurden, eine höhere soziale Kompetenz und Selbstständigkeit auf. Dies kann unter anderem an der engen Stillbeziehung zur Mutter liegen. Stillen schüttet bei Mutter sowie Kind Wohlfühlhormone aus, die Sicherheit geben. Das starke Band zwischen Mutter und Kind kann das Selbstbewusstsein bis ins Erwachsenenalter hin positiv prägen. 

Für manche mag der Anblick leider befremdlich wirken, wenn ein Kleinkind oder Grundschulkind noch an der Brust der Mutter hängt. Böse Zungen behaupten, dass dies etwas mit der Psyche eines Kindes machen kann. Auch hier können Studien Entwarnung geben:  Die American Academy of Pediatrics, der weltweit größte Verband von Kinderärzten, kam bei der Auswertung wissenschaftlicher Literatur zu folgendem Schluss: Es konnten keine Hinweise auf schädliche Effekte auf die Entwicklung oder Psyche eines Kindes gefunden werden, wenn ins dritte Lebensjahr hinein oder länger gestillt wird. Für einen gesundheitlich positiven Effekt sollte mindestens bis zum sechsten Monat ausschließlich gestillt werden und parallel zur Beikost noch die Brust gegeben werden.

Stillen ist immer eine individuelle Entscheidung

Obwohl längeres Stillen viele gesundheitsfördernde Effekte für Mutter und Kind haben, stoßen Mütter oft auf Missverständnis in ihrem Umfeld. Es ist allerdings fürs Stillen wichtig, die Motivation beizubehalten. Frauen, die sich nicht verstanden fühlen, sollten Austausch mit Gleichgesinnten suchen. Dies kann eine Stillgruppe sein oder auch ein Austausch in den sozialen Medien, in denen es vielen durch die Anonymität leichter fällt, sich als Langzeitstillende zu ‚outen‘.

Zudem bedingen verschiedene Faktoren, wie lang eine Frau stillen mag und kann: Wie sind die Lebensumstände? Wie unterstützend ist das Umfeld? Wie sehr spannt das Stillen ein und übt es Stress auf die Stillende aus? Auch das Kind selbst hat einen Einfluss auf die Stilldauer, denn es gibt durchaus Kinder, die nach einiger Zeit das Interesse an der Brust gänzlich verlieren und nur noch feste Kost bevorzugen, andere nehmen die Brust im Grundschulalter noch gerne an. Ob eine Frau nun 12 Monate stillt oder vier Jahre, sollte sie immer selbst bestimmen und sich nicht von gesellschaftlichen Zwängen lenken lassen. Fakt ist in jedem Fall: Langzeitstillen schadet nicht – weder Kind noch Mutter. 

Referenzen:

American Academy of Pediatrics, Section on Breastfeeding: Breastfeeding and the Use of Human Milk. Pediatrics 2005; 115: 496-506.

Brettschneider AK, von der Lippe E, Lange C: Stillverhalten in Deutschland – Neues aus KiGGS Welle 2. Bundesgesundheitsblatt 2018;61:920–925.

Fischer V. Bindung und Bindungstheorien. Kindererziehung. 2021. [zuletzt zitiert am 28.04.2022]. URL: https://www.kindererziehung.com/Paedagogik/Entwicklung/Bindungstheorien.php

Horta B. L., Loret de Mola, C. & Victora, C. G. Long-term consequences of breastfeeding on cholesterol, obesity, systolic blood pressure and type 2 diabetes: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatrica 2015; 104(467), 30–37. https://doi.org/10.1111/apa.13133

Sinnott A: Breastfeeding older children. Free Association Books, 2010.

You may also like